Liebe Leserin, lieber Leser,
ist es zehn Jahre her, vielleicht? Im Auslandsjournal gab es einen Fernsehbeitrag über Zwangsprostitution in Indien, den Horror junger Mädchen und Frauen, die von ihren Familien verkauft werden. Ein solches Mädchen trat ganz anders auf als alle anderen. Mit keiner Faser seines Seins hatte es sich abgefunden mit der Situation. Durchscheinend zart saß es vor der Kamera, und ein Satz blieb hängen, den es sagte: „Ich frage mich, warum wir alle dieses Leben der andauernden Qual Tag um Tag erfahren müssen.“
Wieviele Zuschauerinnen und Zuschauer haben wohl damals diesen Beitrag gesehen? Wie vielen mag wohl die Rede dieses Mädchens unter die Haut gegangen sein? Und dann …? Eine vielfache Tausendschaft ist darüber hinweggegangen, weil der Alltag so viel näher lag, die Waschmaschine, die noch durchlaufen sollte am Abend, die Steuererklärung, der nächste Beitrag der Sendung.
Ich wüsste nicht davon, wäre da nicht ein junger Mann gewesen, ein Schauspieler aus Deutschland, dem mehr als allen anderen, die tausendfach den Sendebreitrag gesehen hatten, die Frage des Mädchens und seine Not nahegegangen waren. Über Jahre hat er nun nach ihm gesucht, es schließlich gefunden, es ausgelöst und in Sicherheit gebracht hier in Europa …, ehe er dann wieder seinem eigenen Leben nachging. Ein Fernsehbeitrag, wiederum in besagtem Magazin, brachte diese Geschichte in unsere Öffentlichkeit. Wie viele von uns haben ihn wohl gesehen? Und wie viele davon haben wohl gedacht: „Ja, Mensch! So hätte ich das doch auch machen sollen!“ Was schätzen Sie?
Jesus würde heute statt seines Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, der einen Überfallenen von der Straße aufhebt und in Sicherheit bringt, wahrscheinlich diese Geschichte erzählt haben.
Im Lukasevangelium, Kapitel 10, ab Vers 25 ist das nachzulesen.
Da geht es um Nächstenliebe, und einer fordert Jesus heraus, indem er fragt, wer denn eigentlich sein Nächster sein solle. Muss man sich denn um jeden Hans und Franz kümmern, dem es irgendwie schlecht geht?! Da muss es doch Filter geben, damit das nicht zu viel wird und wir uns guten Gewissens absetzen können in unser eigenes Leben! Sollen wir uns um die kümmern, die am lautesten schreien? Oder die, die wir am besten kennen? Reicht es nicht, wenn wir uns in der Familie engagieren, ist das nicht genug? Oder auch noch Nachbarn? Oder wie?
„Wer ist denn mein Nächster?“
Na toll, denkt Jesus, wohl und dreht den Spieß um: „Wem willst Du denn nahekommen? Wem wirst Du zum Nächsten?“
Jesus versteht Nächstenliebe also offenbar nicht als Auftrag und Pflicht, die sich uns aufdrängt.
Für ihn ist sie Berufung und Auftrag von Gott her und Erfüllung unseres Seins und Lebens und Glücks.
Wenn wir Liebe in uns zulassen, dann drängen wir auf das Leben zu, dann hört es auf, dass wir das Leben als zudringlich empfinden und abwehren.
Aus einer Defensive, die uns eng macht, kommen wir in eine Weite, die uns – sagen wir mal „draufgängerisch“ macht.
Haben wir uns nicht eigentlich so auch schon geträumt?
Jesus träumt uns so. Was machen wir daraus?
Herzlich
Ihr/Euer
Christoph Sassenhagen